Hunger: Folge der Landlosigkeit
Im Nordosten Brasiliens besitzen die wenigsten LandarbeiterInnen eigenes Land. Die meisten sind posseiros, die durch die Bewirtschaftung des Landes ein Gewohnheitsrecht haben, aber keinen Besitztitel. Fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche Brasiliens (46 %) wird von nur 1% der Landbesitzer beansprucht. Für eine Landreform wird hier schon lange gekämpft und Landbesetzungen sind seit den Fünfziger Jahren eine wichtige Protestform. Viele der posseiros verdingen sich zusätzlich als boia-fria, als TagelöhnerInnen, bei Grobbauern. Wenn es Arbeit gibt, verdienen sie ungefähr 5 Reais am Tag (etwa 2 €), oder sie werden nach Produktivität bezahlt, z.B. mit 1,5 € pro geschnittener Tonne Zuckerrohr. Ein Warenkorb Grundnahrungsmittel kostet jedoch 55 €. Nur die gegenseitige Hilfe hält die Menschen an Orten wie Fuchica am Leben.
Wassermangel? Nein, mangelnde Verteilung des Wassers!
Das Drama des Hungers, das sich regelmäßig im Nordosten Brasiliens wiederholt, ist weniger ein Problem des Wassermangels. Denn der Sertão ist keine Sandwüste. Der Boden ist fruchtbar und ertragreich – wenn es Wasser gibt. Bei sorgsamer Nutzung des verfügbaren Wassers und angepasster Bewirtschaftung würde der Sertão seine BewohnerInnen gut ernähren. Der Hunger ist vielmehr eine Folge der Landlosigkeit und, noch direkter, der ungerechten Verteilung des Wassers. Während die Kleinbäuerinnen kilometerweit bis zur nächsten Wasserstelle laufen müssen, um überhaupt an Trinkwasser heranzukommen, werden im São Francisco-Tal die Obstplantagen intensiv künstlich bewässert. Die Agroindustrie produziert hier Weintrauben, Äpfel, Erdbeeren und andere Kulturen für den Export und gräbt den Kleinbauern buchstäblich das Wasser ab. Diese Agrarpolitik hat schwere ökologische Folgen: Die künstliche Bewässerung der Grobbetriebe verursacht das Versalzen der Böden. Durch den massiven Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln wird das Grundwasser vergiftet. Das Ergebnis ist die fortschreitende Desertifikation – die Verwüstung – der Region.
Landbesetzungen gegen leere Versprechungen
Öffentliche Gelder fließen reichlich in den Sertão, aber nicht in Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation der KleinbäuerInnen. „Wir werden Brunnen für Euch bauen und eine Schule. Und Ihr werdet ärztliche Versorgung erhalten.“ Nezinha und Antonio haben solche Versprechen schon unzählige Male gehört und nach den Wahlen nicht eines davon eingelöst gesehen. Nezinha und die rund 40 Familien sind weiterhin abhängig vom Wassertankwagen, den die Regierung schickt oder „vergisst“. Nezinha engagiert sich seit Jahren in der Bewegung der Landarbeiterinnen, dem MOVIMENTO DE MULHERES TRABALHADORAS RURAIS (MMTR). „Hier gibt es wenigstens keine falschen Versprechungen“ erklärt sie. „Denn der Weg des MMTR ist mühsam und zäh: die eigenen Rechte einfordern, Lokalpolitiker zur Verantwortung ziehen, Proteste organisieren. Unser letztes Mittel gegen die schreiende Ungerechtigkeit sind Landbesetzungen“.
Maßnahmen zum angepassten Leben mit der Trockenheit
Angesichts der jahrzehntelangen Vetternwirtschaft und Korruption müssen sich die zumeist landlosen Kleinbäuerinnen selbst helfen. Das heißt:
– Regenwasser sammeln in Tonnen und Zisternen,
– vorhandene Quellen, Bächen und Flüsse schütze und Uferbereiche niemals abholzen, sondern bepflanzen,
– unterirdische Dämme in alte Flussbetten bauen, damit der Boden das Wasser besser speichert,
– einen stufenweisen Mischanbau vornehmen aus eng beieinander gepflanzten Sträuchern und Bäumen unterschiedlicher Höhe,
– Ziegen halten und einheimische, gegenüber Trockenheit resistente Pflanzen pflegen.
„Macht uns nicht zu Verliererinnen der Globalisierung !“
„Warum es das MMTR gibt? Na, weil sich sonst niemand darum gekümmert hätte, dass wir Frauen einen Anspruch auf Rente, auf Mutterschutz, auf Sozialversicherung, auf Beteiligung an Notbeschäftigungsprogrammen und Landreformmaßnahmen, auf Mitbestimmung in den Gewerkschaften und Vertretung in der Politik bekommen!“, schildert Nezinha die Situation der Landarbeiterinnen. In seinem 20jährigen Bestehen hat das MMTR erreicht, dass die Mehrzahl der Landarbeiterinnen wenigstens eigene Papiere besitzt, sich über ihre Rechte im klaren ist und diese auch einfordert. Aber die Liberalisierung der Agrarmärkte und das Aufweichen der Arbeitsrechte stellt für die Landarbeiterinnen eine existenzielle Bedrohung dar. Mit der Globalisierung ihres Protests haben sie deshalb in Lateinamerika schon begonnen. Ein zweites lateinamerikaweites Treffen ist in Planung.
Angepasste Landwirtschaft praktizieren
Träger: Bewegung der Landarbeiterinnen „Movimento de Mulheres Trabalhadoras Rurais“ (MMTR)
Ort: Sertão, Nordosten Brasiliens
Aktivitäten: Verbesserung der Wasserversorgung durch Sammeln von Regenwasser und Erleichterung des Wassertransports; regelmässige Basis-Treffen; Kampf um Mitspracherecht bei Vergabe und Kontrolle öffentlicher Gelder; Einforderung von Arbeitsrechten; Besetzungen unproduktiver Ländereien Quelle
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